Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 29. März 2023
Das im Mai 2023 publizierte Urteil des Bundesgerichts vom 29. März 2023 hat in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen auf die Hängegleiterfliegerei in der Schweiz – vor allem im Biplacebereich. Dem Urteil liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 25. August 2017 fand eine praktische Biplace-Prüfung statt. Der Pilot hatte mit seinem Passagier, einem brevetierten Fliegerkollegen, die vorgeschriebenen Flugfiguren absolviert und befand sich im Landeanflug. Beim Übergang vom Quer- in den Endanflug geriet er in einen einseitigen Strömungsabriss. Als er daraufhin den Zug auf die Bremsleinen löste, pendelte der Biplace-Schirm stark. Passagier und Pilot schlugen dabei hart auf dem Boden auf und der Passagier zog sich verschiedene Verletzungen zu.
Der Passagier erstattete Strafantrag gegen den Piloten wegen Körperverletzung und die Polizei leitete ein Strafverfahren ein. Das Strafverfahren wurde zuständigkeitshalber an die Bundesanwaltschaft abgetreten. Die Bundesanwaltschaft erliess in der Folge einen Strafbefehl gegen den Piloten wegen fahrlässiger einfacher Körperverletzung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs. Der Pilot erhob Einsprache gegen den Strafbefehl und es kam zu einem Verfahren vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona. Das Bundesstrafgericht verurteilte den Piloten zu einer bedingten Geldstrafe von 25 Tagessätzen wegen fahrlässiger einfacher Körperverletzung und erklärte den Tatbestand der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs damit als abgegolten. Sowohl der Pilot wie auch die Bundesanwaltschaft zogen das Urteil an die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts weiter. Dieses bestätigte den Schuldspruch wegen fahrlässiger einfacher Körperverletzung und sprach den Piloten vom Vorwurf der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs frei. Wiederum erhoben sowohl der Pilot wie auch die Bundesanwaltschaft Beschwerden an das Schweizerische Bundegericht. Der Pilot verlangte einen Freispruch vom Vorwurf der fahrlässigen einfachen Körperverletzung und die Bundesanwaltschaft beantragte einen Schuldspruch wegen fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs. Nach langer Bedenkzeit erliess das Schweizerische Bundesgericht ein Grundsatzurteil. Es wies sowohl die Beschwerde des Piloten als auch die Beschwerde der Bundesanwaltschaft ab.
Einleitend ist in formeller Hinsicht festzustellen, dass gemäss Art. 98 Abs. 1 des Luftfahrtgesetzes die an Bord eines Luftfahrzeuges begangenen strafbaren Handlungen grundsätzlich der Bundesstrafgerichtsbarkeit unterstehen. Da Hängegleiter Luftfahrzeuge sind, ist bei Biplace-Unfällen in aller Regel die Bundesanwaltschaft zuständig. Die Bundesanwaltschaft kann das Verfahren einstellen, einen Strafbefehl erlassen oder den Fall direkt an das Gericht überweisen. Wird gegen einen Strafbefehl eine Einsprache erhoben oder findet eine direkte Überweisung statt, so ist als erste Gerichtsinstanz das Bundesstrafgericht in Bellinzona zuständig. Dessen Urteil kann an die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts weitergezogen werden. In letzter Instanz kommt dann das Schweizerische Bundesgericht in Lausanne zum Zug.
Der hier beschriebene Fall hat also den gesamten «Instanzenweg» durchgemacht und es liegt ein Urteil des Bundesgerichts vor. Das Bundegericht kann einfache Fälle (z.B. Nichteintretensentscheide) durch Präsidialentscheid erledigen. «Normale» Fälle werden von drei Richtern beurteilt. Grundsatzurteile mit tiefergreifenden Auswirkungen (z.B. Änderung einer Bundesgerichtspraxis) werden von der Kammer (fünf Richter) gefällt. Letzteres trifft auf unseren Fall zu.
Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil hauptsächlich mit zwei Themen beschäftigt. Erstens: Hat sich der Pilot an seinem Prüfungsflug der fahrlässigen einfachen Körperverletzung an seinem Passagier schuldig gemacht? Zweitens: Ist der Tatbestand der «fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs» erfüllt? Zunächst hat das Bundesgericht als erwiesen angesehen, dass es zu einem einseitigen Strömungsabriss gekommen ist. Es hat dann geprüft, ob dieser durch einen Pilotenfehler (zu tiefe Geschwindigkeit und starkes Bremsen) oder auf eine andere Ursache (z.B. Turbulenzen oder eine Böe von hinten) zurückzuführen ist. Gestützt auf den ersten Aussagen des Piloten, den Aussagen des Prüfungsexperten sowie den Meteodaten am Unfalltag ist das Bundesgericht zum Schluss gelangt, dass von einem Pilotenfehler (zu starkes einseitiges Bremsen im langsamen Flug) auszugehen ist und andere mögliche Ursachen sehr unwahrscheinlich sind. Der Grundsatz «im Zweifel für den Angeklagten» sei somit nicht verletzt worden.
Anschliessend hat sich das Bundesgericht mit der Frage befasst, ob dem Piloten eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit angelastet werden kann. Die Problematik der Minimalfluggeschwindigkeit und die Gefahren eines Strömungsabrisses – vor allem in Bodennähe – sind sowohl in der Ausbildung zum Solopiloten als auch zum Tandempiloten Gegenstand theoretischer und praktischer Schulung. Dem Piloten war dies bekannt und bewusst. Er habe auch um die Gefahr gewusst, dass eine zu geringe Fluggeschwindigkeit die Gefahr eines Strömungsabrisses erhöhe. Beim fraglichen Gleitschirmflug habe er sich nicht in einer aussergewöhnlichen Lage befunden, die ihn als Piloten von vornherein überbeansprucht habe. Die Berufungskammer des Bundesstrafgerichts habe auch ausgeführt, dass das Flugverhalten des Piloten vom Gutachter und vom Prüfungsexperten übereinstimmend als «gefährlich» eingestuft worden ist. Jedem Prüfungskandidaten sei zudem bewusst, dass eine Prüfung nur schon beim geringsten Anzeichen eines Strömungsabrisses abgebrochen und mit Nichtbestehen bewertet wird.
Ein Verhalten ist sorgfaltswidrig, wenn der «Täter» zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner Kenntnisse und Fähigkeiten die Gefährdung (z.B. von Leib und Leben) des Opfers hätte erkennen können und müssen und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritten hat. Wo besondere, der Unfallverhütung und der Sicherheit dienende Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit kann auch in einem sogenannten «Übernahmeverschulden» begründet sein. «Ein solches liegt vor, wenn der Beschuldigte eine Aufgabe übernommen hat, welcher er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse, etwa seiner Ausbildung, erkennbar nicht gewachsen ist. Die Sorgfaltswidrigkeit besteht in diesem Fall nicht darin, dass der Beschuldigte sich im Rahmen einer Tätigkeit pflichtwidrig unvorsichtig verhält. Sie liegt vielmehr schon darin, dass er die Tätigkeit überhaupt ausführt, obwohl er ihr, wie er hätte erkennen können, nicht gewachsen ist» (Erwägung 3.3). Gemäss dem eingeholten Gutachten handle es sich beim Prüfungsflug um den ersten Flug in Eigenverantwortung, anlässlich dessen prinzipiell keine Funkverbindung zu einem Fluglehrer besteht. Der Prüfungsanwärter trägt somit (erstmals) einen Grossteil der Verantwortung für einen Passagier alleine, womit sich die Sicherstellung ausreichender fliegerischer Expertise als essenziell erweise. Zudem bestätigen Prüfungskandidaten gemäss Ziffer 4.1.3 der Weisungen SHV mit ihrer Unterschrift auf dem vom Fluglehrer vor der Prüfung abgegebenen Prüfungsprotokoll, dass sie die Weisungen des SHV zur Kenntnis genommen haben und sich als prüfungsreif erachten. Eine Anmeldung zur Prüfung soll demnach erst erfolgen, wenn ein Anwärter der Überzeugung ist, dass er die zur Absolvierung der Prüfung erforderlichen Fähigkeiten – wozu gemäss den Weisungen SHV die Landung zählt – beherrscht. Dabei ist ohne Weiteres einsichtig, dass angesichts der potenziell weitreichenden Unfallfolgen bei einer Tandem-Gleitschirmprüfung nur wenig Raum für Flugfehler bestehen kann. Der Prüfungsflug erscheint mit anderen Worten ungeeignet, um dem aktuellen Ausbildungsstand zu «testen». Die Fähigkeit zur Einschätzung der Mindestfluggeschwindigkeit hätte beim Antritt zur Prüfung vielmehr vorliegen müssen. Dass vorgängige Erfahrungen als Solopilot offenbar nicht 1 zu 1 auf das Tandemfliegen übertragen werden können, spielt dafür keine Rolle. Daraus, dass der selber als Solopilot brevetierte Passagier die zu geringe Fluggeschwindigkeit ebenfalls nicht erkannt haben soll, kann der Pilot nichts zu seinen Gunsten ableiten. Zum einen ist nicht erstellt, in welchem Umfang sich der Passagier überhaupt auf das Fluggeschehen konzentrierte, und zum anderen war nur der Pilot Prüfungskandidat. Es wäre an ihm gewesen, genügende Kenntnisse sicherzustellen und diese im Zweifelsfall über die Absolvierung der vorgeschriebenen Anzahl Übungsflüge hinaus zu vertiefen. Der Pilot hat bei seiner Anmeldung ausdrücklich seine Prüfungsreife zugesichert und er kann sich deshalb nicht auf seine Unerfahrenheit beziehungsweise auf sein ungenügend entwickeltes Fluggefühl berufen. «Er hätte vor seiner Anmeldung zur Prüfung sicherstellen müssen, dass er über die zur sicheren Durchführung der Prüfung erforderlichen fliegerischen Fähigkeiten verfügt und muss sich seine mangelnde Flugerfahrung anrechnen lassen». (Erwägung 3.4.2).
Das Bundesgericht hat sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob der Passagier in ein gefährdendes Verhalten eines Dritten (hier des Piloten) eingewilligt hat – eine Frage, die sich regelmässig im Rahmen sportlicher Aktivitäten stellt. Bei der Realisierung eines sportartspezifischen Grundrisikos soll von einer strafrechtlichen Ahndung abgesehen werden. Je krasser indes Regeln verletzt werden, die dem körperlichen Schutz dienen, desto weniger kann von der Verwirklichung eines «spieltypischen» (in unserem Fall gleitschirmtypischen) Risikos gesprochen werden und desto eher rückt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ins Blickfeld (Erwägung 3.5.3). Der vorliegend zu beurteilende Gleitschirmunfall ist als einverständliche Fremdgefährdung zu werten. Die Tatherrschaft (der Entscheid über die Flughöhe, die Geschwindigkeit und die Richtung) kam vollständig dem Piloten zu, während sein Passagier keine Möglichkeit hatte, über die blosse mündliche Kommunikation hinaus, korrigierend in das Fluggeschehen einzugreifen.
Für den Prüfungsflug gelten die einschlägigen gesetzlichen Grundlagen und insbesondere die Weisungen des SHV. Diese dienen – ähnlich wie Spielregeln – unter anderem dem Zweck, die Sicherheit der Piloten und ihrer Passagiere soweit wie möglich zu garantieren und das Risiko von Unfällen zu minimieren. Der Pilot hat die anerkannten Regeln der Luftfahrt zu befolgen und alle erforderlichen Massnahmen zu treffen, um speziell die Interessen der Fluggäste zu wahren (Erwägung 3.5.4). Dadurch, dass es der Pilot unterliess, auf eine adäquate Mindestgeschwindigkeit zu achten – wobei der zu langsame Queranflug zusammen mit anschliessender Betätigung der linken Bremse zu einem Strömungsabriss und letztlich zum Absturz des Gleitschirms führte –, gefährdete er die Gesundheit seines Passagiers in ganz erheblichem Masse. Die mit dem Flugfehler einhergehende Gefährdung der Sicherheit der Beteiligten erweist sich dabei als so schwer, dass sich ein sofortiger Abbruch der Prüfung im Sinne von Ziffer 4.10 der Weisungen SHV zwingend aufdrängt. Dies erscheint angesichts der potenziell fatalen Folgen eines Gleitschirmabsturzes auch durchaus als sachgerecht. Daraus folgt, dass es sich bei einer Fehleinschätzung der Fluggeschwindigkeit nicht um eine bloss geringfügige Abweichung von den anerkannten Regeln der Flugkunst handelt. Vielmehr ist von einem groben Flugfehler auszugehen. Beim durch den Piloten verursachten Gleitschirmabsturz handelt es sich somit nicht um die Konkretisierung eines im Rahmen von Gleitschirm-Prüfungsflügen sporttypischen Risikos in Form eines leichten Verstosses gegen die Regeln der Flugkunst, das sich der Passagier womöglich hätte anrechnen müssen. Es liegt kein Fall strafloser einverständlicher Fremdgefährdung vor (Erwägung 3.5.5). Zusammengefasst kommt das Bundesgericht also zum Ergebnis, dass eine Verurteilung des Piloten wegen fahrlässiger Körperverletzung seines Passagiers zu Recht erfolgt ist.
Gemäss Art. 237 des Strafgesetzbuches wird mit Freiheitstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft, wer vorsätzlich den öffentlichen Verkehr, namentlich den Verkehr auf der Strasse, auf dem Wasser oder in der Luft, hindert, stört oder gefährdet und damit wissentlich Leib und Leben von Menschen in Gefahr bringt. Falls der Täter dadurch wissentlich Leib und Leben vieler Menschen in Gefahr bringt, so kann auf Freiheitstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren erkannt werden (Ziff. 1). Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe (Ziff. 2). Gemäss der bisherigen, konstanten Rechtsprechung des Bundesgerichts und der überwiegenden Meinung der Rechtsgelehrten war der Tatbestand der Störung des öffentlichen Verkehrs erfüllt, wenn kumulativ eine durch den Täter begangene Fahrlässigkeit, die konkrete Gefährdung des Lebens oder körperlichen Integrität einer am öffentlichen Verkehr teilnehmende Person und ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Fahrlässigkeit und der Gefährdung gegeben sei. Es genügt gemäss der bisherigen Rechtsprechung des Bundegerichts dabei, dass die Handlung das Leben oder die körperliche Integrität einer einzelnen Person in Gefahr gebracht hat. Jede Gefährdung der Insassen eines – öffentlichen oder privaten – Verkehrsmittels, ganz gleich in welcher Beziehung sie zum Führer stünden, sei vom Tatbestand von Art. 237 StGB erfasst – so war bislang die Meinung. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil dann ausführlich die Entwicklung der Rechtsprechung aufgezeigt, einzelne Urteile genannt und die Meinung der führenden Rechtswissenschaftler dargelegt. Es ist insbesondere auf eine frühere Praxisänderung (BGE 100 IV 54) eingegangen. Dort hat das Bundesgericht erkannt, dass Art. 27 StGB auch anwendbar ist, wenn der Täter Leib und Leben mitfahrender Personen gefährde. Es sei nicht einzusehen, weshalb diese weniger schutzwürdig seien als andere Verkehrsteilnehmer. Auch Mitfahrer nähmen am Verkehr teil und es wäre wirklichkeitsfremd, den Kapitän eines Passagierschiffs oder den Piloten eines Linienflugzeugs, der in grobfahrlässiger Weise seine Führerpflicht verletze und dadurch Leib und Leben seiner Passagiere schwer gefährde, einzig deswegen nicht wegen Gefährdung des öffentlichen Verkehrs zu bestrafen, weil er sich dabei fern eines anderen Wasser- oder Luftfahrzeugs gehalten habe. Das Bundesgericht kam also zum Schluss, dass jede Gefährdung von Insassen eines öffentlichen oder privaten Verkehrsmittels, unabhängig von der Beziehung der Passagiere zum Täter, vom Tatbestand von Art. 237 StGB erfasst sei. Bis zum hier diskutierten Urteil hat das Bundesgericht an dieser Rechtsprechung festgehalten. Die Mehrheit der Rechtsgelehrten hat diese Sichtweise unkritisch übernommen.
Im jetzt besprochenen Urteil hat das Bundesgericht seine bisherige Haltung überdacht und ist zu einem anderen Ergebnis gekommen. Unbesehen der Frage, ob mit Art. 237 StGB der Verkehr als solcher (im Sinne z.B. eines ungehemmten Verkehrsgeschehens) geschützt werden sollte, legt dessen gesetzliche Einordnung unter der Marginalie «Verbrechen und Vergehen gegen den öffentlichen Verkehr» zumindest nahe, dass damit kollektiven (bzw. überindividuellen) Gefahren im Rahmen des Verkehrs begegnet werden sollte. Die Ansicht, dass die gefährdete oder verletzte Person die Allgemeinheit repräsentieren muss und es zu diesem Zweck nur vom Zufall abhängen darf, wer das konkret gefährdete oder verletzte Opfer ist, ist überzeugender.
Damit der Tatbestand erfüllt ist, muss von der Gefährdung des öffentlichen Verkehrs die Allgemeinheit betroffen sein – nicht nur ausschliesslich bestimmte Individuen. Opfer im Sinne von Art. 237 StGB kann somit nur derjenige Verkehrsteilnehmer sein, welcher von der durch den Täter gesetzten Gefährdung zufällig betroffen ist und somit im Verhältnis zum Täter die Öffentlichkeit repräsentiert (Erwägung 5.2.4). Im vom Gericht zu beurteilenden Fall hatte sich der Passagier bewusst dem ihm persönlich bekannten Piloten für den Prüfungsflug zur Verfügung gestellt. Der verunfallte Passagier kann somit nicht als Person bezeichnet werden, die zufällig von den spezifischen Gefahren des öffentlichen Verkehrs betroffen worden ist. Er war nicht Passagier, welchem es einzig um den Flug ging und dem der Pilot zufällig «zugeteilt» worden ist. Im Verhältnis zum Gleitschirmpiloten repräsentiert der Passagier somit nicht die Allgemeinheit. Bei ihm handelte es sich somit nicht um eine Person, die sich im strafrechtlich geschützten öffentlichen Verkehr befunden hat. Der Anwendungsbereich von Art. 237 StGB ist somit nicht eröffnet und ein Schuldspruch wegen Störung des öffentlichen Verkehrs fällt ausser Betracht (Erwägung 5.2.5). Entsprechend wurde der Pilot vom Vorwurf der Störung des öffentlichen Verkehrs freigesprochen.
Konsequenzen für die Hängegleiterfliegerei
Das Bundesgerichtsurteil hat in erster Linie Auswirkungen auf die Biplace-Fliegerei. Die Pilotin/der Pilot eines Biplace-Hängegleiters kann strafrechtlich belangt werden, wenn sie/er elementare Sicherheitsregeln verletzt und dadurch die Passagierin/der Passagier Schaden davonträgt. In einen Strömungsabriss zu geraten – vor allem in Bodennähe – stellt bereits eine solche Verletzung dar. Die Pilotin/der Pilot kann sich also nicht darauf berufen, dass die Passagierin/der Passagier grundsätzlich ein Risiko eingehe, wenn sie/er einen Passagierflug unternimmt und sie/er eben damit rechnen müsse, dass sich dieses Risiko ab und zu auch realisiere. Wenn man beim Start stolpert, stürzt und sich dabei verletzt, wenn man bei der Landung auf einer Wiese, auf einen Maulwurfshügel tritt und sich dabei den Fuss bricht, so sind das wohl allgemeine Risiken des Hängegleitersportes und die Pilotin/der Pilot macht sich nicht strafbar. Reisst hingegen die Pilotin/der Pilot den Schirm im Endanflug ab, vergisst sie/er, die Passagierin/den Passagier einzuhängen, startet in einen Föhnsturm oder kollidiert mit einem bekannten Luftfahrthindernis, so macht sich die Pilotin/der Pilot wahrscheinlich der einfachen, respektive der schweren Körperverletzung oder gar der Tötung der Passagierin/des Passagiers schuldig und kann entsprechend bestraft werden. Dies gilt bereits beim Prüfungsflug. Meldet sich die Schülerin/der Schüler zum Biplace-Prüfungsflug an, so ist sie/er dafür verantwortlich, die wichtigsten fliegerischen Regeln einzuhalten.
Wird eine Passagierin oder ein Passagier während eines Fluges durch ein Verschulden der Pilotin oder des Piloten gefährdet, verletzt oder gar getötet, so kann dies den Tatbestand der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs erfüllen. Wenn die Passagierin oder der Passagier aufgrund einer persönlichen Beziehung zur Pilotin/zum Piloten nur mit ihr/ihm einen Flug unternimmt, so ist der Tatbestand nicht erfüllt, da die Passagierin oder der Passagier nicht ein zufälliger Repräsentant der Öffentlichkeit ist. Bei den bezahlten Passagierflügen hingegen werden die Passagiere zufällig ihren Pilotinnen und Piloten zugeteilt. In diesen Fällen steht bei Unfällen oder Zwischenfällen der Tatbestand der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs zur Diskussion.
Daniel Riner